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"Eisblumen"

Gedichtvertonung, Text: Erfried Thier

Eisblumen

Mein Vater (Jahrgang 1934) verbrachte bis zu seiner Flucht aus der DDR im Jahr 1959 seine Kindheit und Jugend in Holzdorf, Sachsen-Anhalt (östlich von Jessen). Als der Krieg ausbrach war mein Vater fünf Jahre alt. Bis dahin war das Leben auf dem elterlichen Hof fest eingebunden in die bäuerlichen Arbeitsabläufe und die Dorfgemeinschaften. Neben Schulbesuch, Füttern der Tiere, Kartoffeln sammeln, Ernte einfahren, musizierte mein Vater als Teenager mit Freunden in einer kleinen Tanzkapelle. Es gab ein Klavier im Haupthaus an dem seine Eltern, Martha und Erhard, auch nach anstrengender Feldarbeit vierhändig musizierten. Ich denke, dass meinen Vater dieser Anblick, diese Momente der innigen wortlosen Verbindung seiner Eltern in der Musik über den gemeinsamen arbeitsamen Alltag hinaus, sehr geprägt haben. Sein Talent, sich in Worten und Musik auszudrücken, fanden hier sicher eine grundlegende Atmosphäre von Wertigkeit. Mein Vater hat an die 40 Gedichte in seinem Leben geschrieben; von nostalgisch sehnsuchtsvollen Erinnerungen an die Kindheit, witzigen bis teils frivolen Textzeilen zum Wechsel der Jahreszeiten bis hin zu Gedanken mit gesellschaftskritischen Aspekten. Gerne hat er seine Werke vorgetragen, wenn man ihn danach fragte. Ein Gedicht ist für unsere Familien -und unseren Vater- das Schönste von allen. Die Erinnerungen an den Anblick von Eisblumen an den Fenstern des heimischen Bauernhauses. Neulich habe ich meinen nun dementen Vater besucht. Ich las ihm die Anfänge seiner Textzeilen vor, er sprach sie zuende, hangelte sich zur nächsten Zeile. Ein paar seiner von mir vorgesprochenen Worte reichten und er fand sich wieder in seinen Erinnerungen, die er so rührend in Worte gefasst hatte zurecht. Sein Blick wurde klarer und da war wieder so etwas wie ein Strahlen.

Papa starb im Mai 2024.

Musik: „Sonderho Bridal Trilogy Part III“ (Danish String Quartet)