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Am Anfang war das Band

Nach 50 Jahre wiederentdeckt: Zeitzeugeninterviews mit ehemaligen Flak-Helfern

Am Anfang war das Band

Das riecht nach mehr

Altstadtflohmarkt Aachen zwischen Dom und Rathaus

Ich laufe ich mit meinem Mann in Aachen über den Altstadtflohmarkt auf dem Katschhof, dem Platz zwischen Rathaus und Dom. Neben Porzellan, Pelzen, Briefmarken und dem üblichen Trödelkram sind wie immer Tischreihen mit Buchbeständen aus Antiquariaten dabei.

Da liegt ein Taschenbuch, was im Gegensatz zu den anderen Büchern ein merkwürdig unprofessionell anmutendes Cover hat. Handgemalt, kein Klappentext, leicht vergilbt und dann dieser Titel: „Mit 15 an die Kanonen“. Schnell mal durchgeblättert. Eine Studie aus den 70er Jahren eines Geschichtskurses des Aachener Kaiser Karls Gymnasiums – damals altehrwürdiges Jungengymnasium, mitten in der Innenstadt. Das Spannende: ehemalige Schüler des Gymnasiums sowie diverser anderer Aachener und ostbelgischer Schulen waren als Flakhelfer im 2. Weltkrieg und wurden von Schülern, die genauso alt waren wie sie, als sie im Krieg waren, interviewt.

Schulstudie als Taschenbuch (hier der link zum pdf)

Der Geschichtslehrer Paul Emunds und Oberstudienrat Georg Friebe haben sich damals 1 Woche lang mit 23 Schülern der Unterprima (heute: 12. Klasse)  daran gemacht, dieses Thema intensivst zu erarbeiten und die Ergebnisse im Selbstverlag zu veröffentlichen. Was für einen Aufwand Lehrer und Schüler da betrieben haben, ist mir, als ich das Buch mal eben für 9 Euro kaufe, überhaupt noch nicht klar. Ich erkenne aber am Inhalts-, Literatur-, Abbildungs- und Abkürzungsverzeichnis sowie der Akkuratheit mit der O-Töne transkribiert sind schnell, dass hier sehr ausführlich und in die Tiefe gehend gearbeitet wurde. Zuhause lese ich, dass das ca. 45 stündige Interviewmaterial damals auf Tonbändern aufgezeichnet wurde. Was für ein Fund dürfte das wohl werden, falls dieses Material noch irgendwo existiert? Das war im Jahr 2014.

Das Schularchiv ist der erste Ort, an den ich denke. Ich nehme Kontakt mit dem Direktor des Kaiser Karls Gymnasium auf. In der Schule sind Schaukästen mit Utensilien eines ehemaligen Schülers, der in den 1. Weltkrieg eingezogen wurde zu sehen. Nichts zum 2. Weltkrieg. Dem Direktor, selber Schüler des KKG, war Paul Emunds und die Schulstudie bekannt. Die Jungs aus dem Jahrgang über ihm waren die Interviewer. Leider weiß er nichts vom Verbleib der Bänder, hört sich aber um.

Dann kommt Corona. Die Idee, weiter nach den Bändern zu suchen verblasst. Andere Projekte sind für mich wichtiger. Corona ist zwei Jahre später immer noch da und bleibt es auch erstmal. Kein Argument also, mich nicht weiter an die Recherche zu begeben. Mittlerweile sind sieben Jahre seit dem Buchkauf vergangen. Warum höre ich nicht einfach auf mit der Suche? Mich treibt um, dass Schüler und Lehrer durch ihre Gespräche mit so vielen Zeitzeugen einen unmittelbaren Teil nicht nur zur Aachener sondern zur gesamtdeutschen  Erinnerungskultur beigetragen haben. Rückblickend ordne ich das angesichts der Dimension, die diese Studie mit 52 GesprächspartnerInnen aus Deutschland und dem heutigen Ostbelgien annahm, durchaus so ein. Damals war das sicher keinem der Beteiligten bewusst.

Zeitungsausschnitt AZ, 1976

Eine Freundin ist Kunstlehrerin an der Schule. Ich soll ihr eine Mail mit meinem Anliegen, die Suche nach den Bändern, um daraus evtl. einen Hörfunkbeitrag zu machen, schreiben. Ehrlich gesagt, glaube ich das mit dem Hörfunkbeitrag zu dem Zeitpunkt - es ist mittlerweile 2021- selbst nicht mehr. Aber je mehr ich davon verschiedensten Leuten in Aachen erzähle, umso mehr höre ich "Ja, der Emunds war ein besonerer Typ", "Mein Vater war auch bei der Flak" oder "Ich kann mich noch an die Flak-Stellung am Golfplatz erinnern". Ich merke, wie präsent Geschichte hier vor Ort, in meiner Stadt, ist. Das Thema, dass Jugendliche und sogar Kinder für Kriege in totaliären Regimen missbraucht werden, ist leider immer aktuell. Meine Mail macht in der Lehrer-Chat Gruppe des Gymnasiums die Runde. Kurze Zeit später trudeln Kontaktinfos von dem ehemaligen Kunstlehrer, der das Projekt mit initiiert sowie die Buchillustrationen gestaltet hat bei mir ein. Parallel dazu finde ich über Facebook einen der Schüler (Abiturjahrgang 1977), der damals die Interviews geführt hat. Wir telefonieren und er sendet mir den gesamten Pressespiegel dieser Zeit – Berichte in der Lokalpresse, dem WDR (Hier und Heute von 1975). Sogar ein Reporter der U.S. Wochenzeitschrift "New Yorker" besuchte die Schule, sprach mit den Schülern und veröffentlichte einen Artikel im Jahr 1976. Je mehr er mir darüber erzählt, wie wichtig ihm die Teilnahme in seiner Schulzeit war, umso interessanter wird neben dem Schicksal der Flak-Helfer auch die Person des Paul Emunds für mich.

Diese Studie hat offensichtlich in einer Zeit, in der sich die deutsche Nachkriegsgesellschaft nur zögernd bis langsam der eigenen Nazi-Vergangenheit in Form einer konfrontativen Erinnerungskultur - im Sinne von eigenverantwortlicher Aufarbeitung- annahm, für einigen Wirbel gesorgt. Der verantwortliche Lehrer, Paul Emunds, wird als "Nestbeschmutzer" wahrgenommen, legt er doch zusammen mit seinen Schülern den Finger mitten in die Wunde: dem Reden über die eigene aktive Beteiligung - und insofern der selbstgestellten Schuldfrage - am Kriegsgeschehen. Es gibt Anfeindungen von Familienmitgliedern und Lehrpersonal, die befürchteten, dass ihre NS-Vergangenheit ans Licht kommt. Ich nehme per Mail Kontakt mit dem Kunstlehrer -mittlerweile auch schon Mitte 80- auf. Fünf Tage später antwortet er.

Herr Kind (1. Vorsitzender) und Herr Reinard (Archivar)

Ich sei bei ihm genau richtig: die Bänder lagern beim Heimatverein Eilendorf, mit dessem Archivar er bereits Kontakt aufgenommen habe. Paul Emunds Söhne haben das meiste von seinem umfassenden Nachlass nach seinem Tod im Jahr 1991 dem Heimatverein überlassen. Damit war klar: dieses Material, diese Bänder, sind seit fast 50 Jahren nie wieder gehört worden.

Ab Oktober 2021 arbeite ich eng mit dem Heimatverein Eilendorf zusammen. Ich besuche den Archivar Karl Reinard für eine erste Hörprobe: das Material ist gut erhalten. Der kurze Ausschnitt hört sich unspektakulär an. Fast beiläufig erzählt ein Mann, dass es ja damals für ihn normal war in den Krieg zu ziehen. Sein Vater und Bruder waren auch schon eingezogen. Die Mutter habe geweint und sei neben ihm hergelaufen, als er mit seinen 15-jährigen Mitschülern zur Musterung zum Salvatorberg musste. Sein Tonfall ist fast heiter.

Es ist spannend und irritierend, das zu hören. Herr Reinard macht sich an die Arbeit und bringt mir 4 Wochen und etliche Bearbeitungsstunden später 20 CDs nach Hause. Was der Mann -und alle anderen ehrenamtlich tätigen Damen und Herren- da leistet ist unbezahlbar.

Originalskript "Mit 15 an die Kanonen", Paul Emunds

Ich schaue mich beim Heimatverein um, durchforste Paul Emunds Nachlass. In den Kartons sind neben den Bändern diverse Fotos, der ganze Schriftverkehr und die Originalskripte der Studie. Handgetippt, mit vielen Notizen versehen, ausgeschnitten und neu zusammengeklebt immer wieder bei potentiellen InterviewpartnerInnen per Brief oder Postkarte angefragt....Hier war jemand am Werk, der von Aufklärung getrieben war. Der 1923 in Eilendorf geborene Paul Emunds musste als 18jähriger in den Krieg.  "Viereinhalb Jahre Ostfront und zwei Jahre Kriegsgefangenschaft bestimmten mich in meiner Tätigkeit als Lehrer... Einsichtige Schulleiter erlaubten es mir, im Unterricht zu verwirklichen, was ich unter Erziehung zu Demokratie, Friedensliebe und Völkerverständigung verstand...", sagt er über sich selbst (Quelle: "In Memoriam" Paul Emunds, von Wl Ostlender).

Nach dem ersten groben Abhören von 20 Stunden Interviews, spreche ich mit meiner Kollegin Irene Geuer - einer von mir sehr geschätzten Hörfunk-Autorin und Moderatorin- ob das etwas für die WDR Redaktion des Zeitzeichens sei. Ist es. Redakteurin Gesa Rünker nimmt das Thema zum Stichtag 26.1.1943, an dem Hitler den Kriegshilfseinstz der deutschen Jugend anordnet, ins Programm für den 26.1.2023 auf.

Als Aachenerin lebe ich hier im Dreiländereck mit BelgierInnen und NiederländerInnen nah beieinander. Wie dies- und jenseits der nicht mehr vorhandenen Grenzen die jeweiligen Nachbarn gesehen wurden und werden ist immer bereichernd - aus allen drei Perspektiven. Die Besetzung der Nachbarstaaten durch die Wehrmacht, machte aus den dort lebenden Menschen "Beutegermanen"; die Jugendlichen kämpften somit einerseits für den Feind, fanden es aber wie die meistern ihrer ebenso durch die HJ-indoktrinierten deutschen Altersgenossen völlig normal, in den Krieg zu ziehen. Nach Kriegsende und Gefangenschaft wurden manche der u. a. aus St. Vith, Malmedy oder Eupen stammenden Flak-Helfer von den eigenen Landsleuten als Kollaborateure angefeindet.

Ich kenne persönlich drei Nachfahren von Flak-Helfern. Erst auf dem Sterbebett erfuhr eine Tochter wie traumatisierend es für ihren Vater war, als er als Junge Flugzeuge "vom Himmel holte", bzw. mit erwachsenen männlichen Soldaten in einem "wilden Lager" hausen und Bombenabwürfe aus nächster Nähe erleben musste. Erfahrungen, die diese Generation prägten, die sie teils verdrängt teils offen ausgesprochen haben - in jedem Fall Menschen geformt haben, die ihrerseits wiederum die nachfolgende Generation geprägt haben.

Diese Zeitzeugen zu hören ist eine Chance, in die Zeit einzutauchen. Sie laden ein, andere Perspektiven anzunehmen, differenzierter Verhaltensweisen zu verstehen, nicht in schwarz-weiß Denken zu verfallen.

Eins war nach der aufwändigen Arbeit für das ZeitZeichen klar: es muss weitergehen. Diese Stimmen sollen weiterhin Gehör finden.

Gerade jetzt.